
Geld
ist im Schuh
Als ich mir die „Süddeutsche“ aus dem
Zeitungsfach geholt habe, machte der Zug einen heftigen seitlichen
Ruck; ich taumelte mitten im Gang und musste mich bei der dunkelblonden
Dame, die konzentriert auf ihr Laptop tippte, entschuldigen; ich hatte
ihre Schulter gestreift, leider nicht nur sanft. „Ist
okay“, hat sie gut gelaunt gesagt, schräg ins Leere
aufsehend: „zum Glück hatte ich meinen Kaffeebecher
nicht mehr in der Hand. Das wäre schlimmer
geworden.“ Sie hat mich nicht angesehen. Und nichts
bemerkt.
Vielleicht sieht man es mir auch gar nicht an. Zwei Männer in
der 1. Klasse hatten auch ziemlich blasse Gesichter, blutleer? Nein,
ich doch nicht. Ich fühlte mich nicht blutleer, anders ja,
aber schön leicht, nie ganz fest auf dem Boden, das war ich ja
auch früher selten, auch nicht hier im ICE. Leute, das ist ein
herrliches Gefühl, wer weiß, was ich noch alles
kann…
Ich sah einmal mehr meinen Fahrschein an und entdeckte die
anhängende Gutschrift, eben keine Rückfahrkarte,
warum auch, nein, eine beliebige DB-Fahrt irgendwohin, 1. Klasse, im
Wert von 240 Euro. Wow, damit komme ich ja im Schlafwagen nach
Wladiwostok oder nach Spitzbergen oder nach Istanbul, wohin ich schon
lange wollte. Aber ohne dich, Muriel? Ich bin schon lange nicht mehr
darin geübt, allein zu reisen. Muss ich wieder lernen.
In der Außentasche meines Rollkoffers fand ich in einem
Bankumschlag einen Packen Hundert-Euro-Scheine. Wow! Keine Notiz dabei,
nichts von Muriel. Bei wem muss ich mich bedanken? Auch meine
Geldbörse ist international gut gefüllt mit Dollar-
und Pfundnoten. Na, dann bin ich ja hervorragend abgesichert
– wenn ich nicht beklaut werde. Dem wollte ich vorbeugen.
Besonders Paris soll ein Paradies für Banden sein, die
Touristen auflauern.
Ich zog unauffällig meine Schuhe aus. Links neben mir schlief
ein indisch aussehendes Paar; ihr Sohn spielte mit einem kleinen,
hässlich krächzenden Gerät.
Ich hatte einen Fensterplatz, aber das war ein Witz: Vor dem Fenster
verhinderte eine meterbreite Metallabdeckung in der Wagenwand, dass ich
in die Landschaft schauen konnte. Mir blieben je 20 cm vom Fensterplatz
vor mir und von dem hinter mir – erster Klasse soll das sein?
Unter die Einlage in meinen Schuhen schob ich links Tausend Euro,
rechts Neunhundert; mehr wagte ich nicht hineinzustopfen, den Rest tat
ich in den Bankumschlag und steckte ihn in meine Innentasche. Zehn
Hunderter hatte ich mir dicker vorgestellt, sie tragen kaum auf,
probiert es selbst mal! Ich konnte auch gut und fast normal gehen, das
merkte ich, als ich über die wackligen Auflagen zwischen den
Zugteilen zum Klo im nächsten Wagen ging.
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